ROMEO UND JULIA: EIN UNGLEICHES TIERPAAR
Freitag, 28. April 2017
Im Unterschied zu Shakespeares Drama spielt diese Geschichte von Romeo und Julia nicht in Verona, sondern im finnischen Kuhmo. Genau wie ihre Namensgeber wären die beiden Protagonisten, deren Liebe unter einem schlechten Stern steht, eigentlich Feinde. Doch durch eine unerwartete Wende des Schicksals wurden sie Freunde.
Unsere Geschichte stammt von Lassi Rautiainen, einem Naturfotografen, dessen grosse Leidenschaft der Beobachtung und dem Erhalt von Finnlands Grossraubtieren gilt. Lassi bringt Menschen die Tierwelt näher, die er so bewundert, und seine Arbeit hat ihn in Finnland zu einer Schlüsselfigur und einem Vorreiter in Sachen Fototourismus gemacht. Lassis Liebe zur Bärenfotografie wurde im April 1978 geweckt, als er in seinem Baumversteck wartend hoffte, einen Bären abzulichten, der in der Nähe einen Elch erlegt hatte. Bären faszinierten ihn, sagt er, und zwar so sehr, dass sie «mein ganzes Leben bestimmten». Bald schon interessierte er sich auch für Wölfinnen und schliesslich auch für Wölfe. Er schreibt Bücher über alle drei Raubtiere, führt Beobachtungen durch, hält Vorträge an internationalen Konferenzen und organisiert Foto-Safaris für Naturliebhaber.
Seine Leidenschaft für Wölfe wurde im Juli 2012 geweckt, als er an einem nebligen Morgen im finnischen Kuhmo seinen ersten Wolf sah. Nachdem er jahrelang Bären und Wölfinnen fotografiert hatte, träumte er jetzt von der Wolffotografie. In der Vergangenheit war es unmöglich gewesen, Wölfe zu fotografieren, denn die Einheimischen hassten und töteten sie. «Wölfe lassen sich fantastisch beobachten und fotografieren. Ein Buch über Wölfe zu machen, schien möglich zu sein – in Finnland war dies noch nie jemandem gelungen», sagt Lassi.
Bald schon bereiste er die Welt, um Wölfe zu fotografieren und über sie zu schreiben. 2003 dann schienen seine zwei Leidenschaften aufeinanderzutreffen. Er war Zeuge der ersten Begegnung zwischen einem Bären und einem Wolf, die er jemals gesehen hatte. In den folgenden Jahren beobachtete er in Finnland weitere Begegnungen, doch in der Regel verliefen diese kurz und in häufigen Fällen aggressiv. «Für Wölfe», so Lassi, «ist die Präsenz von Bären so, als ob jemand einem Stier ein rotes Tuch vorhält».
Im Sommer 2016 dann fotografierte er etwas, was die Welt noch nie zuvor gesehen hatte: eine Freundschaft der ungewöhnlichsten Art zwischen einem männlichen Jungbären und einer jungen Wölfin. Zuerst entdeckte Lassi den scheuen Jungbären, der alleine unterwegs war und auch beim Fressen meistens alleine blieb. Wenn grössere Bären auftauchten, zog er sich schnell zurück. Er war dem jungen Bären gefolgt und hatte ihn mehrere Nächte lang beobachtet, bis sich eine scheue Wolfsdame zu ihm gesellte. Auch sie schien sich abseits zu halten und Konflikten mit anderen Wölfen aus dem Weg zu gehen. Welch ungewöhnliche Begegnung!
Damals hatte Lassi bereits seit mehr als zwanzig Jahren Bären beobachtet und erforscht, und er erklärte, dass «ich es im Reich der Bären noch nie zuvor erlebt habe, dass ein einzelnes Tier einem Wolf nicht in irgendeiner Form bedroht hätte, wenn nicht durch einen echten Angriff, dann wenigstens durch das typische Klacken des Kiefers oder ein tiefes warnendes Knurren». Lassi taufte den Bären Romeo und die Wölfin Julia.
Lassi folgte dem Paar weitere Nächte und machte viele weitere Aufnahmen. Auch wenn sie anfangs etwas misstrauisch waren, fingen sie bald an, sich jeden Abend zum Fressen zu treffen. Bei diesen geheimen Begegnungen erschien Romeo zuerst, kurz danach tauchte Julia auf, die sorgsam darauf achtete, dass keine anderen Bären oder Wölfe in der Nähe waren. «Wären sie Artgenossen gewesen», so Lassi, «hätte man annehmen können, dass tiefere Gefühle im Spiel sind.» Ihre Freundschaft dauerte mehrere Wochen, bevor sich ihre Wege wieder trennten. Lassi sah Romeo noch mehrere Male, aber immer alleine. Julia hingegen hatte sich wieder ihrem Rudel angeschlossen.
Das erste Mal, dass Lassi eine freundschaftliche Begegnung zwischen Bär und Wolf beobachtete, war eine Überraschung. «Niemand hätte jemals gedacht, dass Bären und Wölfe Freunde sein könnten. Uns war nicht bewusst, dass dies in der Natur möglich ist.» Auch wenn diese Geschichte von Romeo und Julia sich unserer Vorstellung von einer Freundschaft in der Wildnis entzieht, handelt es sich um ein Phänomen, das Lassi danach noch öfter beobachtet hat.
Besucher, die nach Kuhmo kommen und hoffen einen magischen Moment wie auf dem obigen Foto abzulichten, müssen ihr Glück vielleicht in die eigene Hand nehmen. Als wir mit Lassi sprachen, sagte er uns, dass sein Rat an die Fotografen laute, geduldig zu sein: «Nur zwei oder drei Nächte in der Gegend zu bleiben, gleicht einem Lotteriespiel. Um das grosse Glück zu haben, eine Begegnung zwischen Wolf und Bär zu beobachten, muss man schon einige Tage in der Gegend verbringen.» Lassi selbst verbringt oft mehrere Wochen in der Wildnis, um Wölfe, Wölfinnen und Bären zu beobachten. Nach mehr als 35 Jahren ist sein Interesse noch nicht abgeklungen.
Glück allein reicht nicht aus, um Aufnahmen wie die von Lassi zu machen. Man muss über die notwendige Geduld verfügen, die einzig der Leidenschaft entspringt. «Ich bin süchtig nach neuen Erfahrungen in der Natur, über die ich dann berichten kann. Ich träume davon, etwas absolut Neues zu sehen oder Aufnahmen, die ich schon gemacht habe, noch zu verbessern.»
Die Fotos in einem eher schlichten Artikel einer finnischen Naturzeitschrift zog 2013 die Aufmerksamkeit des Daily Mail auf sich, der die Erlaubnis einholte, sie publik zu machen. Seitdem hat Lassi zahlreiche Anfragen erhalten, seine Bilder in verschiedenen Publikationen abzudrucken. Inzwischen finden sie sich in unzähligen Medien in mehr als 30 Ländern.
Inwiefern hat dieses explosionsartige Interesse an seinen Fotos seine Karriere beeinflusst? Touristen, deren Neugierde durch die Aufnahmen geweckt wurde, besuchen jetzt die Region. Gemeinsam mit seinen Söhnen führt Lassi Fotowanderungen und Natursafaris für Gruppen durch. Articmedia ist ein Familienunternehmen, dessen Ziel es ist, den Besuchern durch Fotografie und Beobachtungen die aussergewöhnliche Landschaft und Tierwelt näher zu bringen. Eine Familie nahm sogar die weite Reise von Australien auf sich, um ihr Glück zu versuchen, einen Bären oder Wolf zu sehen. Letztes Jahr kamen 650 Besucher aus 32 Ländern nach Finnland, um die dort lebenden Tiere wie Eulen, Adler, Bären und Wölfe, aber auch die Naturlandschaft zu fotografieren.
Dank Lassis Engagement für die Natur gibt es in der Nähe seiner Fotohütten nur selten Wilderei. Insgesamt ist das Interesse an der Natur und dem Naturtourismus gestiegen.
Heute gilt Lassi als Vorreiter im finnischen Fototourismus. Seine Leidenschaft war die Grundlage für die Veröffentlichung des Buches «Fighters», das über seine fantastischen Erlebnisse mit Wölfen, Bären und anderen grossen Raubtieren Finnlands in der Wildnis berichtet. Es kann über seine Website bezogen werden.
Mehr von und über Lassi Rautiainen findet ihr auf seiner Website.